BGH: Kein Abrechnungsbetrug bei Leistungserbringung „in freier Praxis“ bei zugrundeliegendem Scheingeschäft – Was Vertragsärzte wissen müssen

Die ordnungsgemäße Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen ist für Ärzte von elementarer Bedeutung und Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der Arztpraxis. Sind die Abrechnungsvoraussetzungen aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden zweifelhaft, kann schnell der Vorwurf eines Abrechnungsbetruges im Raum stehen. Der Bundesgerichtshof hat entschieden (BGH, Urteil v. 02. Oktober 2024 – 1 StR 156/24), dass ein Vertragsarzt keinen Abrechnungsbetrug begeht, wenn er trotz zugrundeliegender zivilrechtlicher Scheingeschäfte im Ergebnis weiterhin die wirtschaftlichen Risiken und Chancen seiner Praxis trägt.

Welcher Sachverhalt lag zugrunde?

Ein niedergelassener Laborarzt wollte seine Praxiseinnahmen durch die Gründung eines Vereins und die Übertragung der Praxis auf diesen Verein vor den Finanzbehörden abschirmen. Der Arzt schloss mit dem Verein einen sogenannten „Geschäfts-Kooperationsvertrag“. Dieser beinhaltete die unentgeltliche Übertragung aller Gerätschaften und Einrichtungsgegenstände seines medizinischen Labors an den Verein. Der Verein sollte die finanzielle Verantwortung für sämtliche Einnahmen und Ausgaben der Praxis übernehmen und in alle bestehenden Rechte und Pflichten außerhalb der ärztlichen Tätigkeit eintreten. Zudem trat der angeklagte Arzt alle Honoraransprüche für Praxisleistungen an gesetzlich Versicherte gegen die Kassenärztliche Vereinigung („KV“) an die Präsidentin des Vereins, welche seit dem Jahr 2010 im Labor des Arztes beschäftigt war, ab. Die KV leistete die Zahlungen auf ein Konto, über das der Arzt und die Vereinspräsidentin verfügungsberechtigt waren.

Vertragsärztliche Tätigkeit „in freier Praxis“

Abrechnungsbetrug liegt vor, wenn ein Vertragsarzt gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung falsche Angaben macht, um unberechtigt Leistungen abzurechnen. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Arzt nach dem maßgeblichen Kassenarztrecht nicht berechtigt war, die abgerechneten Leistungen zu erbringen, oder wenn er seine vertragsärztliche Tätigkeit nicht „persönlich in freier Praxis“ im Sinne von § 32 Abs. 1 Satz 1 Ärzte-ZV ausübt. Die Prüfung, ob ein Vertragsarzt abgerechnete ärztliche Leistungen „in freier Praxis“ erbringt, ist gemäß BGH an den geltenden sozialrechtlichen Maßstäben auszurichten. Der Begriff ist durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts konkretisiert worden (vgl. u.a BSG, Urteil v. 23.06.2010 – B 6 KA 7/09 R mwN). Er beinhaltet:

  • eine wirtschaftliche Komponente – die Tragung des wirtschaftlichen Risikos wie auch eine Beteiligung an den wirtschaftlichen Erfolgen der Praxis und
  • eine ausreichende Handlungsfreiheit in beruflicher und persönlicher Hinsicht.

Das wirtschaftliche Risiko trägt der Arzt, wenn ihn Chancen Risiken des beruflichen Erfolges oder Misserfolges persönlich treffen. Kriterien für die berufliche und persönliche Handlungsfreiheit sind z.B., dass:

  • der Vertragsarzt Personal selbst auswählt
  • das Hilfspersonal seinem Direktionsrecht unterliegt
  • ihm die Praxis inkl. der medizinischen Geräten grundsätzlich jederzeit persönlich zur Verfügung steht
  • er die Berufstätigkeit in voller eigener Verantwortung ausführt

Irrelevant sind hingegen u.a. die Eigentumsverhältnisse:

  • an den Praxisräumen
  • an der Geräte- und Materialausstattung

Grundsätzlich können zivilrechtliche Vereinbarungen, vorausgesetzt sie sind rechtswirksam begründet und nicht nichtig, für die Bewertung all dieser Umstände, insbesondere das Maß an Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, relevant werden.

BGH: Scheingeschäft lässt Leistungserbringung „in freier Praxis“ unberührt

In dem vom BGH entschiedenen Fall lautete der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, dem Arzt sei bewusst gewesen, dass er infolge des vertraglichen Konstrukts weder ein wirtschaftliches Risiko getragen, noch über die räumlichen und sachlichen Mittel seiner Praxis habe disponieren können. Dennoch habe er die ärztlichen Leistungen abgerechnet und die ordnungsgemäße Erbringung der Leistungen gegenüber der KV erklärt. Das Landgericht Stuttgart sprach den Arzt in erster Instanz mangels Täuschungshandlung gegenüber der KV vom Vorwurf des Abrechnungsbetruges frei (Urteil v. 20. Oktober 2023 – 20 KLs 115 Js 37615/14). Die Abläufe in der Laborpraxis hätten sich durch die Vereinbarungen faktisch nicht geändert. Das Gericht wertete die zugrundeliegenden Vereinbarungen als – rechtswirkungslose – Scheingeschäfte nach § 117 BGB. Der Arzt habe weiterhin die volle Kontrolle über die Praxiseinnahmen und führe die Praxis in voller Verantwortung. Der Arzt sei nach sozialrechtlichen Gesichtspunkten bei der Erbringung der abgerechneten Leistungen folglich weiterhin als Vertragsarzt „in freier Praxis“ tätig gewesen. Folglich fehle es an einem Irrtum des zuständigen Sachbearbeiters bei der KV.

Auch der BGH verneint eine betrugsbedingte Täuschung. Ungeachtet etwaiger Scheinvereinbarungen mit dem Verein habe der Arzt weiterhin die wirtschaftlichen Chancen und Risiken der Praxis und alle Entscheidungen in voller Eigenverantwortung getragen. Somit sei er tatsächlich weiterhin „in freier Praxis“ tätig und sozialrechtlich zur Abrechnung der vertragsärztlichen Leistungen gegenüber der KV berechtigt gewesen.

Auswirkungen des Urteils

Das BGH-Urteil stärkt die Position von Vertragsärzten, die durch rechtliche Konstruktionen ihre Praxisstruktur optimieren möchten und bietet einen wichtigen Orientierungspunkt. Das Urteil unterstreicht die Bedeutung von eigenverantwortlicher Handlungsfreiheit und wirtschaftlichen Komponenten im Rahmen der Praxisführung und verdeutlicht, dass zivilrechtliche Scheingeschäfte nicht zwangsläufig die Abrechnungsberechtigung beeinträchtigen. Vertragsärzte sollten dennoch sicherstellen, dass ihre Abrechnungs- und Praxisstrukturen den rechtlichen Anforderungen entsprechen, um strafrechtliche Risiken zu vermeiden. Eine sorgfältige Dokumentation und Transparenz sind hierbei essentiell. Frühzeitige rechtliche Beratung kann helfen, Unsicherheiten zu minimieren und die Abrechnungsberechtigung zu sichern.

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