Vom Indiz zum Beweis – der schmale Grat zwischen Schuld und Unschuld
Die Strafrechtsfälle, in denen jemand mit rauchender Pistole über der Leiche stehend angetroffen wird, sind eher selten. Die meisten Urteile beruhen deshalb nicht auf unmittelbaren, unwiderleglichen und offenkundigen Beweisen, wie einer eindeutigen Zeugenschilderung. Die Frage nach Schuld oder Unschuld – oder zu mindestens nicht beweisbarer Schuld – wird dann über mittelbare sogenannte Beweisanzeichen, also Indizien, beantwortet.
Von Indizien zum Täter – ein steiniger Weg
Wikipedia beschreibt Indizien als „Tatsache, aus deren Vorhandensein auf eine andere Tatsache geschlossen werden kann.“ Das Gericht zieht aus den Grundtatsachen logische Rückschlüsse auf eine Haupttatsache – den unmittelbaren Beweistatbestand. Und da beginnt das Problem:
Die Fingerabdrücke einer Person auf einer Pistole oder einem Messer belegen, dass diese Person diesen Gegenstand in der Hand gehalten hat. Das lässt noch nicht den Schluss zu, dass sie damit geschossen oder zugestochen hat. Finden sich Schmauchspuren oder Blut auf den Händen, ist dies für sich genommen auch noch kein Beleg dafür, dass jemand für die Tat verantwortlich ist. Zusammengenommen legen beide Indizien aber die Täterschaft sehr nahe. Beide Indizien alleine sind kein Beweis, zusammengenommen und bewertet, können sie dem Gericht die Überzeugung der Täterschaft vermitteln. Und wenn jetzt auch noch der Eingangssatz zutrifft, haben wir schon die Verurteilung sicher?
Gegenindizien beseitigen oder entkräften das Grundindiz
Durchaus nicht, wenn es Gegenindizien gibt. Wenn die Person im Zeitpunkt des Schusses in einem anderen Zimmer war – wie beispielsweise eine Kamera aufgezeichnet hat – dann ist der logische Schluss auf die Täterschaft nicht mehr möglich. Wenn das Blut an den Händen davon herrühren kann, dass Wiederbelebungsversuche stattgefunden haben, ist das allerdings kein Gegenindiz gegen Täterschaft, sondern nur die Beseitigung bzw. Entkräftung des Grundindizes „Blut an den Händen“. Die Beispiele zeigen, dass die Bewertung von Indizien zwar Logik verlangt, aber mit der Zahl an Indizien und Gegenindizien immer schwieriger wird. Mathematisch logisch lassen sich Indizien letztendlich nicht fassen.
Subjektivität als Basis jeder Bewertung
Damit haben wir die Grundlage des Problems: In diese Bewertung fließt Subjektivität ein. Die Gewichtung jedes Indizes spielt sich vor dem Hintergrund der persönlichen Erfahrung und Vorprägung ab. Und richterliche Vorprägung gibt es im Strafprozess reichlich.
Das beginnt damit, dass nach Fertigung der Anklage die Akten erst einmal an das Gericht gesandt werden. Also: Was liest der Richter als erstes? Die Anklage! Nun ist ein Richter unabhängig und soll objektiv urteilen. Richtig. Nun ist aber der Richter auch ein Mensch – ebenfalls richtig. Und damit ist erst einmal belegt, dass die theoretische Objektivität den Erkenntnissen über das Funktionieren unseres Gehirns zum Opfer fällt. Die Schlagworte dazu heißen „Ankereffekt“ und „kognitive Dissonanz“.
Effekte bei der richterlichen Einschätzung
Der Ankereffekt bewirkt, dass Menschen ihre Einschätzungen und Entscheidungen an den ersten erhaltenen Informationen ausrichten. Diese können sowohl bewusst als auch unbewusst wahrgenommen werden und beeinflussen die weitere Verarbeitung von Informationen. Das Lesen der Anklageschrift, die darauf ausgerichtet ist, eine Verurteilung zu bewirken, richtet damit die innere Haltung des Richters in Richtung Verurteilung. Selbst wenn er dies weiß, kann er sich dem Effekt nicht entziehen. Er wird alle Informationen auf der Grundlage dieser Formation bewerten, also auch alle Indizien.
Die kognitive Dissonanz – ein anerkanntes psychologisches Phänomen – verstärkt diesen Effekt. Sie resultiert aus dem jeden Menschen innewohnenden starken Bedürfnis, eine innere Widerspruchsfreiheit herzustellen. Wenn Information, die ich einmal in mich aufgenommen habe, infrage gestellt werden, mag unser Gehirn das nicht. Es wehrt sich. Das kann so weit gehen, dass entgegenstehende Informationen nicht mehr in unser Bewusstsein aufgenommen werden. Sie werden also nicht nur minder bewertet obwohl sie objektiv gleichwertig sind, sondern regelrecht geleugnet. Dieser Wirkmechanismus erklärt auch, warum Verteidiger manchmal glauben, sie hätten in einer anderen Hauptverhandlung gesessen als die Richter. Die unterschiedlichen Präformationen durch unterschiedliche Vorinformationen bewirken unterschiedliche Wahrnehmungen.
Effekte und ihr Einfluss Indizien und Gegenindizien
Was heißt das für Indizien? Ihre Bewertung, Gewichtung, und damit letztendlich ihr Einfluss auf das Urteil geschieht nicht objektiv und rein logisch, sondern intrasubjektiv. Und das nimmt Einfluss auf die Bewertung von Indizien und Gegenindizien: Belastende Indizien werden hoch bewertet, Gegenindizien abgewertet. Der schmale Grat ist also eine schiefe Ebene in Richtung Verurteilung.
Konsequenzen für die Verteidigung
Es ist die Aufgabe jeder Verteidigung, in Kenntnis dieser Mechanismen sehr früh in Verfahren aktiv zu werden. Alleine das Wissen darum, dass Gegenindizien durch Zeitablauf entwertet werden können, hat zur Folge, dass sie, wenn gesichert, zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt bereits in das Ermittlungsverfahren eingebracht werden müssen. Jede Gelegenheit, den Zweifel am Leben zu erhalten, muss genutzt werden.