Generalanwalt präsentiert Rechtsauffassung im zweiten EUStA-Vorabentscheidungsverfahren
Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) liegt derzeit das Ersuchen eines spanischen Gerichts (C-292/23) vor, das zentrale Fragen zum Rechtsschutz von Betroffenen gegen Ermittlungsmaßnahmen der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) klären soll. Die Antwort des EuGH wird mit Spannung erwartet. Seine Interpretation des einschlägigen Art. 42 EUStA-VO ist richtungsweisend dafür, wie effektiv Betroffene sich künftig gerichtlich gegen die EUStA zur Wehr setzen können. Am 4. Oktober 2024 hat Generalanwalt Anthony Collins nun dem EuGH seine Rechtsauffassung präsentiert.
Hintergrund und Verfahrensgang
Die EUStA ermittelt seit 2021 in nunmehr 24 EU-Mitgliedsstaaten gegen Wirtschaftskriminalität zum Nachteil des EU-Haushalts. Als supranationale Behörde mit besonderer Struktur agiert sie größtenteils nach den Vorschriften des jeweiligen verfahrensführenden Mitgliedsstaats. Aus diesem Grund und mangels spezieller Strafgerichtsbarkeit auf EU-Ebene, hat der europäische Gesetzgeber die Verantwortung für die Überprüfung von Maßnahmen der EUStA im Ausgangspunkt den mitgliedsstaatlichen Gerichten übertragen. Für die Auslegung des europäischen Rechts und der EUStA-VO bleibt hingegen der EuGH zuständig. Betroffene müssen deshalb im Regelfall zunächst vor den nationalen Gerichten klagen, die ihrerseits im Bedarfsfall den EuGH zur Klärung von Fragen bzgl. des europäischen Rechts anrufen können. Art. 42 EUStA-VO i.V.m Art. 47 GRC, Art. 19 Abs. 1 EUV verbürgen für den Betroffenen hierbei einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen alle Maßnahmen, die Einfluss auf seine Rechtsstellung haben. Der Rechtsschutz gegen derartige EUStA-Maßnahmen vor den nationalen Gerichten darf zudem nicht schwächer sein als gegen vergleichbare Maßnahmen der jeweiligen nationalen Staatsanwaltschaft (Gebot der Gleichwertigkeit).
Das vom spanischen Gericht aufgeworfene Kernproblem liegt darin, ob Regelungen des spanischen Rechts mit diesen Vorgaben in Einklang stehen. Im zugrundeliegenden Verfahren wurde gegen zwei Vorstände einer Stiftung wegen des Vorwurfs des Subventionsbetrugs ermittelt. Dabei wurde ein (ggf. tatbeteiligter) Mitarbeiter von der spanischen Staatsanwaltschaft als Zeuge vernommen. Nachdem die EUStA das Verfahren übernommen hatte, ordnete der zuständige Delegierte Europäische Staatsanwalt (DEStA) erneut die Ladung dieses Mitarbeiters zur Zeugenvernehmung an. Hiergegen legten die beiden beschuldigten Vorstände Beschwerde ein, obwohl das spanische Recht für Zeugenladungen durch einen DEStA – anders als bei nationalen Staatsanwälten – keine Beschwerdemöglichkeit vorsieht. Das angerufene spanische Gericht war nun mit der Frage konfrontiert, ob die spanische Rechtslage mit den Garantien in Art. 42 Abs. 1 EUStA-VO i.V.m. Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 47 GRC und den unionsrechtlichen Grundsätzen der Wirksamkeit und Gleichwertigkeit vereinbar ist. Aufgrund eigener Zweifel an der Vereinbarkeit hat es diese Fragen dem EuGH vorgelegt.
Die Rechtsauffassung des Generalanwalts
Der Generalanwalt legt zunächst dar, dass Art. 42 Abs. 1 EUStA-VO i.V.m. Art. 47 GRC nach seiner Auffassung die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, effektive gerichtliche Kontrollmöglichkeiten gegen Verfahrenshandlungen der EUStA mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten bereitzustellen. Der Begriff der „Verfahrenshandlung mit Rechtswirkung gegenüber Dritten“ sei hierbei unionsrechtsautonom (d.h. einheitlich in der gesamten EU) und deckungsgleich mit Art. 263 AEUV auszulegen. Entsprechend der hierzu vom EuGH entwickelten Maßstäbe sei die Rechtswirkung einer Verfahrenshandlung konkret-individuell nach objektiven Kriterien wie z.B. deren Inhalt, Kontext und den Kompetenzen der anordnenden Institution zu bestimmen. Art. 42 Abs. 1 EUStA-VO verpflichtet nach Auffassung des Generalanwalts indes nicht zur Schaffung eines Direktrechtsbehelfs gegen die Maßnahme selbst. Auch eine Kontrolle der EUStA-Maßnahme im Rahmen indirekter Rechtsbehelfe (bspw. als vorgelagerte Frage der Verwertbarkeit des Beweismittels) könne das Gebot des effektiven Rechtsschutzes erfüllen.
Die für den Generalanwalt entscheidende Rechtsfrage im konkreten Fall besteht nun darin, ob die angeordnete Zeugenladung des Mitarbeiters eine solche Rechtswirkung gegenüber den beschuldigten Vorständen entfaltet. Nur dann komme ein Verstoß gegen Art. 42 EUStA-VO i.V.m. Art. 47 GRC und andere unionsrechtliche Grundsätze in Betracht. Der Generalanwalt spricht sich gegen eine abstrakt-generelle Bewertung und Beantwortung der Frage durch den EuGH aus. Es sei Aufgabe der nationalen Gerichte, anhand der zu Art. 263 AEUV entwickelten Kriterien die Rechtwirkung einzelner Verfahrenshandlungen der EUStA zu bestimmen. Dass eine Maßnahme (z.B. eine Zeugenladung) hinsichtlich ihrer Rechtswirkung damit je nach Mitgliedsstaat unterschiedlich bewertet werden könnte, sei als Konsequenz des Regelungskonzepts der EUStA-VO hinzunehmen. Kommt der konkret betrachteten Maßnahme Rechtswirkung zu, fordere Art. 42 EUStA-VO selbst zwar keinen Direktrechtsbehelf. Die bestehenden Rechtsbehelfe dürfen dann aber nicht nachteiliger für den Betroffenen sein als gegen vergleichbare Maßnahmen der nationalen Behörden. Letzteres sei im Falle der spanischen Regelung nicht gegeben, so dass ein Verstoß gegen Art. 42 EUStA-VO vorliege, wenn die Zeugenladung nach Einschätzung des spanischen Gerichts Rechtswirkung gegenüber den Vorständen entfalte. Die Fragen des spanischen Gerichts seien dahingehend zu beantworten, dass die spanische Regelung zur Nichtanfechtbarkeit der Zeugenladung des DEStA gegen Unionsrecht verstoße, wenn letztere Rechtswirkung gegenüber Dritten entfalte. Die Beurteilung der Rechtswirkung müsse allerdings das nationale Gericht nach den vom EuGH zu Art. 263 AEUV entwickelten objektiven Kriterien vornehmen.
Bewertung und Fazit
Das Bekenntnis, dass Art. 42 Abs. 1 EUStA-VO die Mitgliedsstaaten für Verfahrenshandlungen mit Rechtswirkung gegenüber Dritten zur Bereitstellung effektiver Rechtsbehelfe verpflichtet, ist zu begrüßen – aber auch zu erwarten. Diese EUStA-Maßnahmen müssen in jedem Fall gerichtlicher Kontrolle unterliegen. Weniger erfreulich ist die Einschränkung, wonach das EU-Recht nicht zur Schaffung von Direktrechtsbehelfen verpflichtet, sondern inzidente Überprüfungsmöglichkeiten ausreichen. Dadurch wird der Rechtsschutz für Betroffene verkürzt, wenn die Rechtmäßigkeit einer EUStA-Maßnahme z.B. erst in der Hauptverhandlung angegriffen werden kann und zuvor die Durchführung der Maßnahme hingenommen werden muss. Die Ausführungen des Generalanwalts zu diesem Aspekt erscheinen verschieden interpretierbar, wenn er in seinem abschließenden Entscheidungsvorschlag formuliert, dass die spanische Regelung gegen Unionsrecht verstoße, wenn die Zeugenladung Rechtswirkung gegenüber Dritten entfalte und nach nationalem Recht kein direkter Rechtsbehelf („directly challenge before a national competent court“) zur Verfügung stehe. Letzteres könnte nach seiner Argumentation isoliert keinen Verstoß gegen Unionsrecht begründen. Vermutlich bezieht sich der Generalanwalt hier nur auf den im spanischen Fall festgestellten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichwertigkeit (bei nationalen Maßnahmen besteht ein Direktrechtsbehelf).
Erhebliche Rechtsunsicherheit und Anwendungsprobleme birgt der Vorschlag, keine abstrakt-generelle Beurteilung der Rechtswirkung von Verfahrenshandlungen durch den EuGH vorzunehmen. Über die Beweggründe hierfür lässt sich nur spekulieren. Eventuell soll der EuGH nicht durch unzählige Vorlagen zur Rechtswirkung einzelner Ermittlungsmaßnahmen überlastet werden. Die Auffassung provoziert aber zahlreiche Folgeprobleme. Zum einen entstehen durch die Verlagerung der Rechtsfrage auf die nationalen Gerichte Divergenzen zwischen den Mitgliedsstaaten. Zum anderen stehen die mitgliedsstaatlichen Gerichte vor der Herausforderung, unter einen unionsrechtlichen Begriff (Rechtswirkung gegenüber Dritten) subsumieren zu müssen, dessen Auslegung außerhalb ihres Kompetenzbereichs liegt.
Die zu Art. 263 AEUV ergangene Rechtsprechung dürfte nur wenig Orientierung bieten, weil diese vor allem aus dem Kartellrecht und verwaltungsrechtlichen Verfahren von OLAF stammt (vgl. Herrnfeld, EPPO, 1. Aufl. 2021, Art. 42 Rn. 34). Strafprozessuale Ermittlungs- und Verfahrenshandlungen können indes viel häufiger und intensivere Auswirkungen auf die Rechtsstellung der Betroffenen haben, die ein höheres Maß an gerichtlicher Kontrolle erfordert. Können die nationalen Gerichte den Begriff der Rechtswirkung nicht selbst auslegen, sind sie zur Vorlage gezwungen. Der EuGH muss dann die Auslegung des Begriffs der Rechtswirkung trotzdem im Hinblick auf konkrete Verfahrenshandlungen klären – was die Idee der Entlastung und Vermeidung konkreter Aussagen des EuGH zur Rechtswirkung einzelner Verfahrenshandlungen konterkariert. Das Konzept birgt sogar die Gefahr der Mehrbelastung, weil sie Vorlagen aus anderen Mitgliedsstaaten zu vergleichbaren Verfahrenshandlungen provoziert. Kurz: Ist mittels Vorlage die Rechtswirkung von Zeugenladungen in Spanien geklärt, lässt sich diese Auslegung nach der Konzeption des Generalanwalts gerade nicht auf französische Zeugenladungen übertragen. Deren Rechtswirkung müsste durch eine eigene Vorlage geklärt werden.