Verbandssanktionengesetz

Zweierlei Maß, unterschiedliche Verteidigungsmöglichkeiten: Der eingeschränkte Anwendungsbereich des VerSanG

Der im Mai 2020 veröffentlichte Referentenentwurf eines Gesetzes zur Sanktionierung verbandsbezogener Straftaten (VerSanG) hat im Juni erwartungsgemäß das Bundeskabinett passiert. Zahlreiche Stellungnahmen haben das Vorhaben kritisiert. Das Spektrum der Einwände reicht vom pauschalen Verdikt der Verfassungswidrigkeit bis hin zu einer Vielzahl von Hinweisen auf praktisch bedeutsame Einzelprobleme, insbesondere im Zusammenhang mit verbandsinternen Untersuchungen.

Indes ist die folgenreichste Veränderung der Statik des Gesetzes weder in den Stellungnahmen noch in der Aufsatzliteratur angemessen gewürdigt worden. Anders als der im Sommer 2019 geleakte Vorentwurf soll das Verbandssanktionengesetz nur für Verbände gelten, deren Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist (§ 1). Für Verbände, die wirtschaftliche Ziele nur als Nebenzweck verfolgen, bleibt es hingegen bei der Anwendung der rudimentären Regelungen des OWiG auch dann, wenn die Anknüpfungstat eine Straftat ist. Diese Einschränkung des Anwendungsbereiches weicht nicht nur von § 1 Abs. 2 Kölner Entwurf, § 1 Abs. 1 NRW-Entwurf und § 1 Abs. 2 öVbVG ab. Sie begegnet auch rechts- und wirtschaftspolitischen Bedenken und hat tiefgreifende Konsequenzen für die Unternehmensverteidigung.

Begründung nicht tragfähig

Die Entwurfsverfasser des VerSanG begründen die Begrenzung des Anwendungsbereiches damit, dass Verbände, deren Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, „regelmäßig in hohem Maße durch ehrenamtliches Engagement gekennzeichnet (sind) und insbesondere gemeinnützigen Zwecken (dienen). Die Fortgeltung des durch das Opportunitätsprinzip geprägten Ordnungswidrigkeitenrechts soll der großen Bandbreite dieses ehrenamtlichen Engagements insbesondere in Vereinen Rechnung tragen und den Verfolgungsbehörden eine größere Entscheidungsflexibilität einräumen.“

Dem stellt die Entwurfsbegründung Verbände gegenüber, deren „gewinnorientierte Betätigung in einem von Konkurrenz geprägten Markt mit erhöhten Risiken der Begehung von Straftaten durch Leitungspersonen und Mitarbeiter einhergehen kann.“ Für diese Verbände bedürfe es über das OWiG hinausgehender Regelungen, die den Gegebenheiten wirtschaftlicher Betätigung Rechnung tragen. Dazu zählten insbesondere die Einführung des umsatzbezogenen Sanktionsrahmens, die Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen und die Aufnahme von Regelungen zu verbandsinternen Untersuchungen. Hingegen sollen Verbände, „deren Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, (…) nicht zu einer Professionalisierung ihres Engagements und ihrer Aktivitäten gezwungen werden“, wie es in einer (nunmehr gestrichenen) Passage in der Begründung des Vorentwurfes heißt.

Indes widerspricht die Ausklammerung von Idealvereinen dem Ziel des Verbandssanktionengesetzes, Compliance-Maßnahmen zu fördern und Anreize für die Aufklärung von Straftaten zu bieten. Warum solche Anreize bei sämtlichen Verbänden ohne wirtschaftliche Zwecksetzung nicht sachdienlich sein sollen, ist nicht nachvollziehbar. Klar ist, dass die Anforderungen an ein effektives Compliance-Management-System an die konkrete Gestalt und Tätigkeit eines Idealvereins angepasst werden müssen. Für einen kleinen Verein, der etwa eine Kleingartenanlage betreut oder Amateursport organisiert, bedeutet das, dass in aller Regel keine Maßnahmen erforderlich sind, die über die ohnehin bestehenden vereinsrechtlichen Pflichten des Vorstandes und seiner Mitglieder hinausgehen.

Große Vereine wie etwa Sportverbände weisen hingegen eine erheblich größere und komplexere Struktur sowie ein anderes Risikoprofil auf. Daher ist für sie eine Nachschärfung bestehender Compliance-Programme nicht nur sinnvoll, sondern ist ihnen auch wirtschaftlich zumutbar. Um die erheblichen Unterschiede zwischen Idealvereinen Rechnung zu tragen, sollte darüber nachgedacht werden, die im Entwurf vorgesehene Regelung über das Absehen von Verfolgung wegen Geringfügigkeit (§ 35 VerSanG) an die Besonderheiten von Verbänden geringer Größe anzupassen (Kubiciel, jurisPR 21/2019) anstatt Idealvereine vollständig aus dem Anwendungsbereich des VerSanG auszuklammern.

Sonderregeln für Unternehmen der Daseinsvorsorge

Die Einschränkungsklausel des § 1 VerSanG erfasst deutlich mehr Verbände als es auf den ersten Blick erscheint. Denn die Frage, ob ein wirtschaftlicher Zweck verfolgt wird, soll sich nach den zu §§ 21, 22 BGB entwickelten Grundsätzen für die Unterscheidung zwischen ideellen und wirtschaftlichen Vereinen richten. Zur Abgrenzung verwenden Rspr. und Lit. im ersten Schritt eine teleologisch-typologisierende Betrachtung. Danach ist von einer wirtschaftlichen Zwecksetzung auszugehen, wenn der Verband am Markt gegenüber Dritten unternehmerisch tätig wird, d.h. planmäßig, auf Dauer angelegt und nach außen gerichtet eigenunternehmerische Tätigkeiten entfaltet, die auf die Verschaffung vermögenswerter Vorteile abzielen (vgl. BGH, Beschluss vom 16.5.2017 – II ZB 7/16, BGHZ 215, 69 = NJW 2017, 1943).

Jedoch darf diese weite Formulierung nicht täuschen. In einem zweiten Schritt scheidet die Rechtsprechung nämlich sämtliche Verbände aus, die sich auf das sog. „Nebenzweckprivileg“ berufen können (siehe schon BGH, Urteil vom 29.9.1982 – I ZR 88/80, NJW 1983, 569). Danach liegt kein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb vor, soweit es sich lediglich um eine untergeordnete, den idealen Hauptzwecken des Vereins dienende wirtschaftliche Betätigung im Rahmen des sogenannten Nebenzweckprivilegs handelt. Aus dem Anwendungsbereich des VerSanG fallen daher sämtliche Unternehmen, die zur Erreichung nicht wirtschaftlicher Ziele unternehmerische Tätigkeiten entfalten, sofern letztere „dem nichtwirtschaftlichen Hauptzweck zu- und untergeordnet und Hilfsmittel zu dessen Erreichung sind.“ (BGH, Beschluss v. 16.5.2017, II ZB 7/16, BGHZ 215, 69 = NJW 2017, 1943).

Das erfasst alle (öffentliche) Unternehmen, die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge erbringen, sobald die wirtschaftlichen Ziele dem Zweck der Daseinsvorsorge als gleichgeordnet anzusehen sind. Beispiele sind Kreiskrankenhäuser, landeseigene Kliniken oder kommunale Krankenhausträgergesellschaften, die teilweise als gemeinnützige Aktiengesellschaften geführt werden, aber Umsätze in einem dreistelligen Millionenbereich aufweisen und mit privaten Anbietern konkurrieren. Selbst Sparkassen müssten vom Anwendungsbereich ausgeschlossen sein, da sie nicht primär gewinnorientiert arbeiten.

Wirtschafts- und rechtspolitisch ist dies misslich, da vergleichbare Unternehmen, die auf ein und demselben Markt tätig sind, unterschiedlichen Gesetzen unterworfen sein werden: Für private Kliniken oder Banken gilt fortan das VerSanG mitsamt Legalitätsprinzip, differenzierten Verfahrensregeln und rigider Sanktionsandrohung, während für Kliniken öffentlicher Träger und Sparkassen das OWiG zur Anwendung kommt – mitsamt Opportunitätsprinzip, lückenhaften Verfahrensregeln und einem Bußgeldrahmen, der bei 10 Millionen Euro endet. Da Sanktionsregeln nicht unwesentliche Wettbewerbsbedingungen sind, führt das Nebeneinander von VerSanG und OWiG nicht nur zu einer unterschiedlichen Rechtsanwendung, sondern auch zu ökonomisch relevanten Verzerrungen im Wettbewerb. Was diese Ungleichbehandlungen rechtfertigt, sagt der Regierungsentwurf nicht.

Die Argumente, mit denen die Begrenzung des Anwendungsbereichs des VerSanG begründet werden, verfangen jedenfalls nicht. Auch wirtschaftende öffentliche Körperschaften und Unternehmen sind auf einem von „Konkurrenz geprägten Markt“ tätig; auch in ihnen können „Risiken der Begehung von Straftaten durch Leitungspersonen und Mitarbeiter“ entstehen, denen das VerSanG mit der Förderung von Integrität und Compliance entgegenwirken will.

Folgen für die Unternehmensverteidigung

Drastische Auswirkungen hat das Nebeneinander unterschiedlicher Rechtsregime auch für die Verteidigung von Unternehmen. Wird beispielsweise ein Mitarbeiter eines Medizinprodukteherstellers verdächtigt, einen Mitarbeiter einer landeseigenen Klinik bestochen zu haben, muss das erstgenannte Unternehmen nach Maßgabe jener Regeln beraten und verteidigt werden, die das VerSanG aufstellt. Besonders dringlich ist dabei eine Entscheidung darüber, ob eine verbandsinterne Untersuchung nach den Vorgaben des VerSanG durchgeführt wird, um auf eine Einstellung des Verfahrens hinwirken zu können oder jedenfalls eine drastische Reduzierung der Geldbuße zu erhalten.

Die landeseigene Klinik kann hingegen darauf hoffen, dass die Staatsanwaltschaft schon gar kein Verfahren gegen die juristische Person einleitet und sich mit einer Strafverfolgung des Mitarbeiters begnügt, da das OWiG kein Ermittlungszwang vorsieht. Wird die Klinik aber als Nebenbeteiligte in das Verfahren eingebunden, muss sie keine kostenträchtige interne Untersuchung nach Maßgabe des VerSanG durchführen: Das OWiG sieht eine solche ebenso wenig vor wie es die Einstellung unter Auflagen kennt. Die Klinik kann also weder darauf hoffen, dass eigene Aufklärungsbemühungen zu einer Einstellung des Bußgeldverfahrens Anlass geben, noch lässt sich abschätzen, ob eine Untersuchung zu einer Bußgeldreduzierung führt und wie hoch die Reduzierung ausfällt. Für die Klinik kann es sich daher unter Umständen lohnen, auf eigene Aufklärungsbemühungen zu verzichten.

Das wäre nicht nur in spezialpräventiver Hinsicht misslich, sondern könnte zu dem schwer vermittelbaren Ergebnis führen, dass der Medizinproduktehersteller seine eigene Sanktionierung voranzutreiben hat, während die Klinik in der Deckung bleibt und darauf hofft, dass die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe nicht wird aufklären können. Geht die Rechnung der Klinik nicht auf, droht ihr ein Bußgeld von maximal 10 Millionen Euro (zzgl. einer in unserem Fall aber kaum vorstellbaren Abschöpfung wirtschaftlicher Vorteile). Der Medizinproduktehersteller wird sich dieses Risiko hingegen kaum leisten können: Ab einem Jahresumsatz von 100 Millionen Euro, droht ein Bußgeldrahmen, der bei 10 Prozent des Jahresumsatzes endet – plus Abschöpfung der wirtschaftlichen Vorteile.

Die Beispiele praktisch relevanter Friktionen, die der von § 1 VerSanG eingeschränkte Anwendungsbereich auslöst, ließen sich fortsetzen. Aus dem Blickwinkel der Verteidigung betrachtet, zeigen sie, dass für zwei Unternehmen in einer vergleichbaren Situation unterschiedliche Verteidigungsstrategien in Betracht gezogen werden müssen. Aus dem Blickwinkel des Rechtswissenschaftlers und der Rechtspolitik zeigen sie, dass über den Anwendungsbereich des VerSanG nochmals nachgedacht werden sollte.

 

Hinweis: Mit unserem Blog möchten wir ein Forum für einen meinungsfreudigen, offenen Diskurs zum Unternehmensstrafrecht bieten. Daher veröffentlichen wir regelmäßig auch Gastbeiträge anerkannter Experten aus Beratung und Wissenschaft. Die in den Gastbeiträgen vertretene Meinung muss dabei nicht unbedingt die Ansicht der Sozietät Wessing & Partner widerspiegeln.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel lehrt Wirtschafts- und Medizinstrafrecht an der Universität Augsburg und leitet die dort angesiedelte Forschungsstelle für Unternehmensstrafrecht.