Angst vor der Wahrheit?

Replik auf die Stellungnahme der deutschen Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte vom 26.01.2023

Die deutschen Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte haben den vom Bundesministerium der Justiz am 22.11.2022 vorgelegten Referentenentwurf für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung abgelehnt.

Das überrascht nicht. StaatsanwältInnen und RichterInnen standen (bis auf wenige Ausnahmen (aktuell: Dokumentation der Hauptverhandlung – aber richtig (lto.de)) der Einführung eines wörtlichen Protokolls schon immer skeptisch gegenüber.

Aus Sicht der Strafverteidiger wurde die ablehnende Haltung der Justiz an diesem Punkt immer deutlich kritisiert. Es ginge Staatsanwälten und Richtern vor allem um die Hoheit des Sachverhalts („richterliche Alleinherrschaft über den Sachverhalt“ „Strafgerichtliche Hauptverhandlung: Digitales Inhaltsprotokoll soll kommen (handelsblatt.com). Als Beleg wird immer wieder angeführt, dass Deutschland eines der wenigen Länder der Welt ist, dass keine wörtliche Protokollierung (analog oder virtuell) von Vernehmungen und der strafgerichtlichen Hauptverhandlung vornimmt.

Die Kritik der Strafverteidiger empfinden wiederum vor allem die Richterinnen und Richter als Anmaßung.

Die Stellungnahme der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte sind Wasser auf die Mühlen derer, die behaupten, dass es der Justiz bei der Vermeidung der Protokollierung nicht um Sachargumente, sondern vor allem um Bequemlichkeit geht.

Auf den Punkt gebracht: Die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte führen an, dass der Referentenentwurf keinen sachgerechten Beitrag zur Digitalisierung der Justiz leiste. Er gehe von falschen Voraussetzungen aus, er wäre zur Unzeit vorgelegt und kranke an erheblichen, nicht nur empirischen Mängeln. In der Stellungnahme behaupten die sie, dass der Entwurf auch grundlegende verfassungs- und europarechtliche Fragestellungen unbeachtet lasse. Er greife verfassungswidrig in Grundrechte ein, so die Argumentation. Zusammengefasst wird ausgeführt, dass der Entwurf kein Problem löse, sondern neue Probleme schaffe.

Ist das wirklich so? Nein!

  1. Kein Mehrwert für die Wahrheit? Wirklich?!

An die Spitze der Begründung der Stellungahme stellen die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte, dass ein Regelungsbedarf für sie nicht ersichtlich ist. Die bisherige Dokumentation der Hauptverhandlung hat sich seit Jahrzehnten „bewährt“, formulieren sie. Verbunden wird das mit der Aussage, dass ein Mehrwert im Sinne einer „Arbeitshilfe“ überhaupt nicht im Raum steht. Die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte gehen davon aus, dass es nicht auf den Wortlaut von Aussagen, sondern auf den Inhalt der Aussagen ankommt. Diese Positionierung geht an der Sache völlig vorbei. Es ist unter Aussagepsychologen unstrittig, dass die Dokumentation von Aussagen in gerichtlichen Verfahren und im Ermittlungsverfahren dem menschlichen Gedächtnis weitaus überlegen ist (so jedenfalls das Standardbuch von Bender / Häcker | Tatsachenfeststellung vor Gericht | 5. Auflage | 2021; die Autoren sind Richter und keine Anwälte).

Die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte erliegen einem Irrglauben, wenn sie meinen, dass die Erfassung der Aussage durch die eigene Mitschrift kein Grund für Fehlerquellen wäre. Verkannt wird völlig, dass der Inhalt einer Aussage oftmals auch selektiv erfolgt. Studien haben längst ergeben, dass die Justiz häufig aufgrund der Vorbefassung in der Ermittlungsphase bzw. im Studium der Akten dazu neigen, Belastendes überzubewerten und Entlastendes zu übersehen.

Das muss nicht in jedem Fall zu einem Fehlurteil führen, ist aber eine potentielle Fehlerquelle. Erinnert werden muss in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) die subjektive Sichtweise des Richters einen wesentlichen Anker für die Überzeugungsbildung darstellt. Gerade deswegen kann eine Dokumentation ein wichtiges Korrektiv sein. Der Glaube, dass das derzeitige bestehende System funktioniert, ist menschliche Selbstüberschätzung, die ein Protokoll nur umso wichtiger macht.

  1. Technik nicht ausgereift? Ein alter Hut!

Die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte kritisieren des Weiteren auch die technischen Möglichkeiten. Sie behaupten, dass die derzeitige Technik nicht ausreichend wäre aus der audiovisuellen Dokumentation eine schriftliche Dokumentation herbeizuführen. Sie führen an, dass die bekannte Software im besten Fall nur eine Korrektur oder eine Trefferquote das automatische Transkribieren (also von nur 80 Prozent gewährleisten). Auch an diesem Punkt muss man sagen, dass dieses Argument nicht überzeugt. Es ist ein klassisches Argument in Reformprozessen, die Fähigkeiten der Software in Abrede zu stellen. Das gilt im Übrigen auch für viele weitere Tools im Bereich der digitalen Beweisgewinnung, die mittlerweile allerdings gerne von der Justiz eingesetzt werden. Deren Ergebnisse werden, ohne Hinweise der Verteidigung, so gut wie nie infrage gestellt.

Es ist klar, dass bei der Transkription einer audiovisuell aufgezeichneten Aufnahme eine menschliche Kontrolle erfolgen muss. Der damit verbundene Mehraufwand für die Justiz muss personell kompensiert werden. Es ist ein beliebtes rhetorisches Stilmittel von Digitalisierungsgegnern, die Technik anzugreifen, wenn diese noch nicht zu 100 Prozent ausgereift ist. Die bisher genutzte Spracherkennungssoftware (digitale Diktat Software) erkennt im Idealfall auch „nur“ zwischen 90 und 95 Prozent der gesprochenen Worte, sodass zum Gebrauch im Rechtsverkehr eine Überarbeitung durch die Sachbearbeiter auch hier notwendig bleibt. Allerdings zeigen Studien, dass das eigene Mitschreiben ohne Erkennungssoftware die höhere Fehlerquote aufweist.

Der Hinweis der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte, dass die Spracherkennungssoftware viel weniger verlässlich ist, wenn kein Hochdeutsch gesprochen wird, kann in dieser Allgemeinheit nicht verfangen. Völlig außen vor bleibt, dass eine audiovisuelle Dokumentation in den Fällen ganz wichtig wird, in denen Aussagen von Beschuldigten und Zeugen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. In der Praxis werden diese Aussagen simultan durch Dolmetscher übersetzt. Die Übersetzungsqualität ist allerdings unterschiedlich. In der Praxis besteht das Problem, dass dies – bis auf wenige Ausnahmefälle – nicht überprüft werden kann. Mit einer audiovisuellen Dokumentation bestünde die Möglichkeit in bestimmten Fällen eine entsprechende Überprüfung vorzunehmen. Hier würde durch die audiovisuelle Dokumentation eine echte – in der Praxis nicht selten notwendige – Qualitätskontrolle eingeführt. Zu diesem Vorteil äußern sich die Generalsstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte überhaupt nicht.

Und schließlich: Der Entwurf lässt für Entwicklungen genügend Raum.  Nach § 19 EGStPO bestimmen die Länder, wann die digitale Dokumentation der Hauptverhandlungen vor den Landes- und Oberlandesgerichten eingeführt werden soll und ob diese zunächst auf einzelne Gerichte und Spruchkörper begrenzt werden soll. Spätestens zum 1. Januar 2030, also in sieben Jahren (!), muss die Technik eingeführt sein. Es besteht also genügend Zeit, die Technik, die Umsetzung und Einbindung in den Prozessalltag zu testen.

  1. Die Aufzeichnung als „Auslöser“ von Streitigkeiten des Inhalts?

Völlig unverständlich ist der Hinweis, dass erst durch die Einführung der audiovisuellen Dokumentation ein Streit über den Inhalt von Zeugenaussagen entstehen könnte. Die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte befürchten eine „Beweisaufnahme über die Beweisaufnahme“. Sie argumentieren, dass es zu neuen Meinungsverschiedenheiten über den Verlauf der Hauptverhandlung geben kann. Das ist nicht logisch. Wenn man von neuen Meinungsverschiedenheiten spricht, muss bedacht werden, dass diese Meinungsverschiedenheiten in komplexen Verfahren ohnehin schon seit jeher an der Tagesordnung sind. Die audiovisuelle Aufzeichnung würde dazu führen, dass sie problemlos aufgeklärt werden könnten. Die jeweilige subjektive Sichtweise der Prozessbeteiligten über den Inhalt dessen was in der Hauptverhandlung bisher geschehen ist, könnte also überwunden werden. Die Stellungnahme der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte kann nur so verstanden werden, dass man sich damit arrangiert hat, dass jeder Verfahrensbeteiligte bei seiner Sicht bleiben und das Gericht auf seine eigene subjektive Ansicht abstellen kann. Offensichtlich sehen die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte hier kein Problem. Sie akzeptieren also, dass eine fehlerhafte Interpretation einer Aussage hingenommen werden müsste. Das Strafrecht ist allerdings nicht irgendein Gebiet, sondern das „schärfste Schwert“ des Rechtstaates. Zweifel an der objektiven Grundlage von Urteilen darf sich er nicht erlauben, jedenfalls dann nicht wenn diese mit einfachen (technischen) Mitteln beseitigt werden können.

  1. Die Angst des Zeugen …. wovor eigentlich?

Weitere Gegenargumente beruhen darauf, dass die Befürchtung gehegt wird, dass Zeugen in ihrer Aussage eingeschüchtert werden könnten. Sie müssten befürchten, dass sie die audiovisuelle Aufzeichnungen in der Öffentlichkeit landen, so das Argument. Hier wird ein Drohpotential aufgezeigt, das durch den Entwurf gewürdigt wird. Nicht ohne Grund hat der Entwurf die Veröffentlichungen solcher Aufzeichnungen unter Kriminalstrafe gestellt. Der § 353d StGB wird entsprechend erweitert. Außerdem wird sichergestellt, dass die Aufzeichnungen, wenn sie nicht mehr erforderlich sind, sofort gelöscht werden sollen. Die Behauptung, dass Zeugen eingeschüchtert werden, dürfte in dieser Allgemeinheit kaum zu halten sein. Im Gegenteil kann das durchaus zur Disziplinierung von Zeugen beitragen.

  1. Datenschutz – sonst aber kein Problem!

Auch die weiteren Gegenargumente sind kaum nachvollziehbar. Wenn davon gesprochen wird, dass datenschutzrechtliche Grundsätze nicht beachtet werden, lässt das staunen. In der Praxis werden die datenschutzrechtlichen Vorschriften der §§ 45 ff. BDSG von Ermittlern kaum beachtet. Wenn es z.B. darum geht, Daten von Verfahrensbeteiligten zu speichern, obwohl das Verfahren bereits abgeschlossen ist, findet man immer wieder Daten, die nicht oder nur auf Hinweis gelöscht werden.

Es ist also unglaubwürdig, wenn die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte den fehlenden Datenschutz der betroffenen an diesem Punkt monieren, wo die Qualitätskontrolle ihrer eigenen Arbeit in Rede stellt. Im Übrigen berücksichtigt der Entwurf das Datenschutzrecht der Betroffenen schon im Grundsatz. Verbesserungsbedarf hinsichtlich des Datenschutzes bei der Strafjustiz gibt es. Das betrifft aber ganz sicher nicht nur die audiovisuelle Dokumentation, sondern die gesamte Datenverarbeitung der Ermittler. Vorschläge zur Verbesserung sollten die Generalsstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte vielleicht in Gänze vorschlagen. Ansonsten bleiben sie auch an diesem Punkt unglaubwürdig.

  1. Die Tonbandaufnahme

Neben der Videoaufzeichnung wenden sich die Generalstaatsanwälte auch gegen die sogenannte „kleine“ Lösung: die Aufzeichnung (nur) auf Tonband.  Für diese Alternative gibt es durchaus Argumente (Dokumentation der Hauptverhandlung – aber richtig (lto.de)).

Hier äußern sich die Generalstaatsanwälte aber kaum. Sie meinen, dass die Ausführung zu Videoaufzeichnung auch für die bloße akustische Aufzeichnungen gelten. Dies gilt ausdrücklich auch für die akustische Aufzeichnung mit Transkription. Sie tauge nicht als Hilfsmittel im Laufe der Hauptverhandlung, weil der Zeitaufwand für ein Abhören mit der aktuellen Personalausstattung nicht zu bewältigen sei und die Verteidigung und das Gericht ebenfalls vor vergleichbare Probleme stellen würde.

Hier werden einfach alle Argumente in einen Topf geworfen, um den Entwurf abzulehnen. Die Fertigung einer Transkription funktioniert in vielen anderen Ländern ohne Probleme. Aber auch ohne Transskript könnte man mit einer bloßen Aufzeichnung ein Mehrwert erstellen. Das Gericht, die Staatsanwaltschaften und die Verteidiger müssten nicht die gesamten Tonband-Aufzeichnungen abhören. Sie könnten sie selektiv heranziehen, wenn man sich im Laufe des Prozesses noch einmal vergewissern will oder bestimmte im Laufe des Prozesses gewonnene zusätzliche Erkenntnisse durch andere Zeugen noch einmal abgleichen wollte. Dies würde den jetzigen Prozessablauf nicht stören, weil es eben nur eine fakultative Möglichkeit der Verfahrensbeteiligten schaffen würde.

Auch hier wird klar, dass die Generalstaatsanwaltschaft einfach nur alles beim Alten belassen will. Sie muss sich den Vorwurf der „Sicherung“ der Alleinherrschaft über den Sachverhalt für die Justiz gefallen lassen.

  1. Das alte Lied der Revision

Der wahre Grund der Ablehnung schimmert erst am Ende der Stellungnahme durch. Es wird darauf verwiesen, dass die Befürchtung besteht, dass die audiovisuelle Dokumentation das sogenannte herkömmliche Revisionsrecht in Frage stellen könnte. Der Entwurf hat dies dadurch gelöst, dass die audiovisuelle Dokumentation nicht für Revisionsrügen herangezogen werden kann. Hier äußern die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte allerdings Sorge, dass aufgrund der Dokumentation eine Prüfung des Vortrags möglich wird. Bislang kann der Verurteilte mangels Protokolls nicht rügen, dass ein bestimmter Zeuge das genaue Gegenteil von dem gesagt hat, was das Strafgericht angenommen hat. Hintergrund ist das durch die Rechtsprechung (nicht durch den Gesetzgeber!) entwickelte Rekonstruktionsverbot. Dies sorgt bei vielen Betroffenen für Unmut; hier geht es um mehr als nur um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege: Es geht vor allem auch um Strafgerechtigkeit. Bei den Generalstaatsanwälten steht im Raum, dass die audiovisuelle Dokumentation dazu führen wird, dass solche Rügen nun doch möglich werden. Die „Sorge“ richtet sich also darauf, dass der Bundesgerichtshof (BGH) nicht umhinkommen werde, sich mit den Revisionsrügen und dem Inhalt der Dokumentation auseinander zu setzen. Das auch dann, wenn der Entwurf eine solche Rüge ausdrücklich nicht vorsieht, weil die audiovisuelle Dokumentation nur als Gedächtnisstütze für die Verfahrensbeteiligten ausgestaltet ist und dass „normale“ Protokoll über die Förmlichkeiten (ohne Inhalt der Aussagen) gar nicht ersetzen soll. Es ist allerdings – da haben die Generalstaatsanwälte durchaus recht – nicht ausgeschlossen, dass der BGH bei sogenannten Evidenzfällen die audiovisuelle Dokumentation oder das Transskript dafür heranzieht, ein Urteil deswegen aufzuheben, weil das Instanzgericht eine (wichtige) Zeugenaussage nicht richtig gewürdigt oder übergangen hat. Es bleibt allerdings schleierhaft, warum das ein Problem sein soll. Unrichtige Wahrnehmungen eines Gerichts, die es allerdings zur Überzeugungsbildung und für einen Schuldspruch genutzt hat, dürfen in einem freiheitlichen Rechtsstaat keinen Bestand haben.

  1. Schluss

Vor dem Hintergrund Debatte stellt sich die Frage, warum eine audiovisuelle Vernehmung, die in vielen Ländern schon seit Jahren und Jahrzehnten erfolgreich praktiziert wird, in Deutschland „verfassungswidrig“ sein sollen

Im Strafprozess geht es ausschließlich um die Wahrheit. Wenn die audiovisuelle Dokumentation dazu beitragen kann, Urteile zu revidieren, die der forensischen Wahrheit nicht entsprechen, muss jeder Staatsanwalt und jeder Richter das befürworten. Anderenfalls werden sie ihrer Aufgabe im Strafprozess nicht gerecht.

Eine ausführlichere Betrachtung des Entwurfs finden Sie hier:

Der Referentenentwurf des Hauptverhandlungsdokumentationsgesetzes: „All right, Mr. Buschmann, we are ready for our close-up.” – KriPoZ

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